Regeneration und Auszeit

Ein lang gehegter Wunsch

 

Seit vielen Jahren träume ich davon, mir eine echte Auszeit nur für mich zu nehmen. Als es schließlich so weit war, diesen Wunsch zu realisieren, stellte sich die Umsetzung überraschend einfach und unkompliziert heraus – zumindest viel leichter, als ich zunächst erwartet hatte.

 

Doch die Entscheidung, mir diese Auszeit zu gönnen, fiel mir nicht leicht. Das schlechte Gewissen nagte an mir. Gedanken wie „Bin ich egoistisch, wenn ich das durchziehe?“ machten mir den Entschluss sehr schwer. Besonders Aussagen aus meinem Umfeld wie „Meine Kinder alleine lassen – das könnte ich nicht“ befeuerten meine Selbstzweifel zusätzlich. Natürlich sind solche Aussagen oft manipulativ und zeugen von einem sehr engen Horizont der Person, die sie äußert. Denn eines meiner wichtigsten Learnings auf dieser Reise ist: Fürsorge ist geschlechtsunabhängig und eine universell-menschliche Fähigkeit, die nicht nur den Müttern obliegt (dazu später mehr).

 

Doch trotz dieser Erkenntnisse führten die Selbstzweifel und die über Jahre andauernde Diskussion mit mir selbst darüber, ob ich diese Auszeit nun wirklich antreten darf, schließlich zu einer selbstbestimmten Entscheidung – für mich und meine seelisch-emotionale sowie mentale Gesundheit.

 

Selbstfürsorge

 

Ich sprach offen mit allen, die von meiner Abwesenheit betroffen sein würden, und machte klar, wie wichtig diese Auszeit für mich ist. Meine Gesundheit – sowohl seelisch als auch körperlich – ist für mich essentiell. In meinem Beruf als Heilpraktikerin ist es meine Aufgabe, anderen zu helfen, ein gesundes, ausgeglichenes Leben zu führen. Dafür muss ich selbst in meiner besten Form sein.

 

Nach 22 Jahren Berufserfahrung, zahlreichen Aus- und Weiterbildungen sowie der Gründung einer Familie fühlte ich, dass ich eine Pause brauchte. Diese Auszeit sollte mir die Möglichkeit geben, zu regenerieren, durchzuatmen und eine neue Balance zu finden. Natürlich brauchte es sowohl Mut als auch eine große Portion Wohlwollen mir selbst gegenüber, damit ich den Plan in die Tat umsetzen konnte.

 

 

 

Ich entschied mich, in die Regeneration meiner Ressourcen zu investieren und die Chance zu nutzen, mich selbst nach langer Zeit wieder an erste Stelle zu setzen.

Seit ich Kinder habe, vermutlich kennen viele Eltern diesen Zustand, stehen die Bedürfnisse der Kinder für viele Jahre im Vordergrund. Das ist natürlich eine völlig verständliche Priorität. Doch irgendwann ist es wichtig, sich wieder selbst in den Fokus zu rücken, sich zu pflegen und das eigene Gleichgewicht wieder zu finden.

 

Auszeit Kurreise

 

Es gibt heute viele Möglichkeiten, eine Auszeit zu nehmen. Meine Wahl fiel auf eine Kurreise: Drei Wochen an einem kraftvollen Ort mit heilender Thermalquelle, der mir die perfekte Gelegenheit zur Regeneration bieten sollte.

Im Gegensatz zu einem normalen Erholungsurlaub liegt der Fokus hier auf nachhaltiger Regeneration auf allen Ebenen: körperlich, seelisch und mental. Das tägliche Behandlungsprogramm bestehend aus Massagen, Schlammpackungen, Heilwasseranwendungen und Saunagänge helfen, Körper und Seele zu entspannen, Schmerzen zu lindern und die Selbstheilungskräfte zu aktivieren.

Und auch der Genuss kommt nicht zu kurz: gutes Essen und entspannende Momente gehören ebenso dazu.

 

Es entsteht ein Raum ohne Alltagsverpflichtungen, ohne Stress und Hektik, ohne Mental – Load. Nur das Wohlbefinden, die Regeneration und das Aufladen mit frischer neuer Energie ist in diesem Raum wichtig.

 

Hévíz

 

Endlich war es soweit - die Reise begann. Ich fuhr nach Ungarn, in den europaweit bekannten Thermalort Hévíz, der in der Nähe des Balatons liegt. Hévíz bedeutet ‚fließende warme Quelle‘ und wird seit Tausenden von Jahren als Ort der Heilung und Regeneration genutzt. Eine der bekanntesten Legenden über diesen magischen Ort handelt vom römischen Kaiser Flavius Theodosius:

 

„Laut einer antiken Legende über den Ursprung des Sees und seiner heilenden Kräfte wurde der römische Knabe Flavius von einer christlichen Amme in Pannonien (dem römischen Namen für das heutige Ungarn) erzogen. Der Junge war schwach und kränklich, während sein Vater ein großer General war. Die Amme betete zur Jungfrau Maria, dass diese den Knaben heilen möge. Als die Heilige Jungfrau ihr Flehen hörte, schuf sie eine Quelle mit heilendem Wasser, in dem das Kind jeden Tag baden musste. Das aus der Tiefe aufsteigende warme Wasser der Quelle und der dampfende Schlamm stärkten den Körper des Kindes. Aus dem schwachen Jungen wurde der oströmische Kaiser Flavius Theodosius, der 391 das Christentum zur Staatsreligion seines Reiches machte. Das Wasser dieser Quelle speist bis heute den Hévízer See und bringt vielen Menschen Heilung.“ (https://www.heviz.hu/de/der-hevizer-see)

 

Archäologische Funde belegen jedoch, dass der Ort bereits am Ende der Steinzeit von Menschen besiedelt war. Laut der bekannten Archäologin Marija Gimbutas existierte entlang der Donau schon vor über 6000-8000 Jahren eine alteuropäische Hochkultur, die regen Handel betrieb, filigranes Kunsthandwerk meisterte und mit großer Wahrscheinlichkeit egalitär lebte und weder Gewalt noch Kriege kannte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie bereits die heilende und regenerierende Wirkung des Wassers und des Schlamms im Hévízer Thermalsee erkannten sowie nutzten.

 

 

Der See zog mich jedenfalls sofort in seinen Bann. Noch am ersten Abend spazierte ich um ihn herum und konnte mich der magischen Ausstrahlung kaum entziehen. Schon da setzte eine tiefe lösende Entspannung ein, die mich während meines gesamten Aufenthaltes in Hévíz begleitete. Diese Runde um den See wurde ab da mein tägliches Ritual. Ich atmete die heilsamen Dämpfe und beobachtete die Nebelschwaden, die an kalten Tagen über den See waberten.

 

 

 

Anfangs erhielt ich eine ärztliche Untersuchung und darauf ausgerichtet verschiedene Anwendungen zur Unterstützung meiner Gesundheit. Eine dieser Anwendungen war das Gewichtsbad, welches vom Vater der jetzt dort praktizierenden Ärztin, dem bekannten Hévízer Mediziner Dr. Károly Moll entwickelt wurde. Dabei steht die Traktion der Wirbelsäule unter Wasser und sehr schonend im Mittelpunkt der Behandlung, was Rückenschmerzen lindert und auch vorbeugend wirkt. Eines meiner weiteren Highlights waren die Schlammpackungen mit dem wohltuenden, warmem Schlamm des Hévízer Sees. Diese genoss ich wirklich sehr und merkte unwillkürlich eine schmerzlindernde Wirkung in meinen Gelenken.

 

 

 

Was mich an Hévíz besonders beeindruckte, war nicht nur die heilende Kraft des Wassers, sondern auch die jahrtausendealte Geschichte dieses Ortes. Der Gedanke, dass schon in der Steinzeit Menschen dieses heilsame Wasser genutzt haben, ließ meine Auszeit zu etwas viel Größerem werden. Es ist die tiefe, heilsame und fast körperlich spürbare Verbindung zwischen Mensch und Natur, die dieser Ort für mich verkörperte und die ich in meinen eigenen Erholungsprozess integrieren konnte. In einer Welt, in der wir oft den Kontakt zur Natur verlieren, fand ich hier nicht nur körperliche Erholung, sondern auch eine tiefe, spirituelle Verbundenheit, die mich nachhaltig auftanken ließ.

 

 

Learnings

 

1. Fürsorge als ureigene menschliche Fähigkeit

 

 

In der Zeit meines Kuraufenthaltes ist mir unter anderem bewusst geworden, dass Fürsorge eine geschlechtsunabhängige, universelle Fähigkeit ist. Sie gehört zu unserem menschlichen natürlichen Repertoire, sie ist eine natürliche Ausstattung, die jede/r hat.

 

Wie komme ich zu diesem Schluss?

Zum großen Teil waren die Servicekräfte in dem Kurhotel männlich. Zu jeder Mahlzeit konnte ich die Fähigkeit der Fürsorge live beobachten. Das Servicepersonal tat alles, damit sich die Kurgäste wohlfühlen. Sie waren umsichtig, fleißig und sorgten für gute Laune und Wohlbefinden während der Mahlzeiten. Natürlich ist das ihr Job, aber sie machten ihn mit Leichtigkeit, Freude und einer ganz natürlichen Selbstverständlichkeit. Besonders auffällig war, dass sie nach einiger Zeit Spezialwünsche oder Sonderwünsche von einigen Gästen ohne deren nochmalige Bitte sofort erfüllten.

 

 

Diese Erkenntnis hat für mich einen besonderen Wert, da gesellschaftlich oft noch die Vorstellung vorherrscht, dass Fürsorge eine „weibliche“ Eigenschaft ist, die mit bestimmten Rollenbildern und Erwartungen verbunden wird. Doch im gelebten Alltag ist es viel differenzierter und bunter. Gerade in der Interaktion mit den männlichen Servicekräften wurde mir bewusst, dass Fürsorge keine Geschlechterzugehörigkeit braucht. Es ist eine Fähigkeit, die jeder Mensch in sich trägt, unabhängig von traditionellen Geschlechterrollen.

 

So überwand ich auch die anfangs geschilderten Selbstzweifel, da ich meine Kinder zu Hause in fürsorglichen Händen wusste und die toxischen Aussagen hatten nun keine Angriffsfläche mehr.

 

2. Kinder vermissen

 

 

Mein zweites, für mich allerdings überraschendes Learning ist, dass ich zum ersten Mal meine Kinder vermisst habe. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich dieses Gefühl noch nie erlebt, da ich noch nie so lange von ihnen getrennt war. Aus meiner Perspektive ist es ein gutes Gefühl, da es meine tiefe Verbundheit zu ihnen ausdrückt.

 

 

 

Wahrscheinlich kennen die meisten Eltern und gerade auch frischgebackene Mütter die sehr anstrengenden und zehrenden ersten Jahre mit kleinen Kindern. Durchwachte Nächte, Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse manchmal bis zur Selbstaufgabe, ein Berg an Mental – Load (laut wikipedia beschreibt Mental Load die Last der alltäglichen Verantwortung für Haushalt und Familie, die Beziehungspflege sowie das Auffangen persönlicher Bedürfnisse und Befindlichkeiten, die gemeinhin als nicht der Rede wert erachtet werden und somit weitgehend unsichtbar sind) und natürlich auch die große Verantwortung, die mit dem Großziehen von Kindern einhergeht. Das zehrt mit der Zeit an der Substanz von Eltern, da es ein langfristiger Prozess ist.

 

Die Strukturen in unserer Gesellschaft sind leider immer noch so rigide, dass die komplette Reproduktionsverantwortung in der Kleinfamilie liegt. Aus meiner Sicht gehören Kinder in die Mitte der Gesellschaft und jedes Mitglied sollte sich der Verantwortung Kindern gegenüber bewusst sein.

 

 

 

Um so wertvoller ist die Erkenntnis für mich, dass ich mich trotz großer räumlicher Entfernung in dieser Zeit der Kur meinen Kindern dennoch sehr verbunden und nah gefühlt habe.

 

3. Wichtigkeit von Zeiten der Regeneration und Selbstfürsorge

 

 

Ein weiteres wesentliches Learning für mich ist, dass Zeit und Raum für Selbstfürsorge, Regeneration und Wohlfühlmomente essentiell wichtig sind, um Seele und Körper zu pflegen und zu nähren. Diese bewussten Pausen vom Alltag dienen der Gesundheit auf allen Ebenen und sind oft wichtiger, als Phasen der Produktivität. Denn hier bekommt Kreativität, Muße und bloßes Sein einen gebührenden Platz. Sowohl unsere Seelen als auch unser Körper verdienen gleichermaßen Fürsorge, so wie wir sie unserem Umfeld auch angedeihen lassen. Selbstfürsorge ist kein bloßer Luxus, sondern eine Notwendigkeit, um gesund, kraftvoll und mit frischer Energie unser Leben in Leichtigkeit und Freude zu gestalten.

 

Fazit: Mit neuen Perspektiven Heimkehren

 

Die drei Wochen in Hévíz waren weit mehr als nur körperliche Erholung – sie waren auch eine Reise zu mir selbst. Ich durfte nicht nur lernen, wie essenziell es ist, sich bewusst Zeit für Regeneration zu nehmen, sondern auch, dass Fürsorge keine Frage des Geschlechts ist. Diese Erkenntnis hat mir geholfen, alte Überzeugungen loszulassen und mein schlechtes Geswissen endgültig hinter mir zu lassen.

 

 

 

Besonders berührt hat mich die tiefe, fast archaische Verbindung zwischen Mensch und Natur, die ich an diesem Ort gespürt habe. Die heilende Kraft des Wassers, das jahrtausendealte Wissen um Regeneration und die ehrliche Fürsorge, die mir entgegengebracht wurde – all das hat mich auf einer tiefen Ebene genährt und gestärkt.

 

 

 

Ich kehre zurück mit neuer Energie, mit frischem Blick auf das Leben und mit der Gewissheit, dass Selbstfürsorge nicht egoistisch ist, sondern eines der größten Geschenke, die wir uns und unserer Umgebung machen können. Nur wenn wir selbst im Gleichgewicht sind, können wir auch anderen in Liebe, Wohlwollen und Klarheit begegnen.